Story 23 – Fleckenauftritt

... wie ein Missgeschick nachhaltig die Fantasie anregt

Kostümwerkstatt
Wer schon einmal hinter die Kulissen eines Theaters schauen durfte, der weiß, dass dort allerhand möglich gemacht, ja fast gezaubert wird, um Bühne und Kostüme nach den Vorstellungen der Regie- und Ausstattungsleitung umzusetzen. Vor vielen Jahren durfte ich eine Weile in unterschiedlichen Positionen Teil eines solchen Universums sein und heute, so finde ich, ist der ideale Zeitpunkt, das Thema Theater als Gewürz für eine Story einzustreuen. Warum? Ganz einfach. - Aus der Vielzahl an Kleidungsstücken, die bei mir eintreffen, habe ich aktuell eines auserkoren um ihm eine zweite, ja vielleicht sogar schon dritte Lebenschance zu geben. Was mir beim Analysieren direkt auffiel, war ein eingenähtes Etikett, das den Herkunftsort klar definierte: Musiktheater im Revier.

Zauberwelt
Aus Gelsenkirchen also stammt das ausrangierte Schätzchen. Ein Mantel, Überwurf, Umhang war es einmal gewesen und irgendein*e Darsteller*in hatte ihn, so lässt sich vermuten, für eine begrenzte Zeit auf den Brettern getragen, die „die Welt bedeuten“. Als Herzog vielleicht? Märchenprinz? Zauberfee? Vieles ist denkbar, doch wir wissen es nicht. Es sei denn, wir hätten zur Produktionszeit in der Kostümwerkstatt genau daran gearbeitet und die drei Meter Dupionseide in Bahnen aneinander genäht, gerüscht und mit einem Lurexdamast eingefasst. Also nehmen wir an, dass dieser Mantel für eine Inszenierung und wenigstens eine Spielzeit lang an so manchem Abend Teil eines Gesamtkunstwerkes gewesen war, das dem Schauspielensemble seine Gage und dem Publikum Unterhaltung gebracht haben mochte. Und wenn alles so abgelaufen ist, wie ich es noch präsent in meiner Erinnerung habe, dann waren im Vorfeld ganz sicher ein paar Auswahl- oder Fehlbestellungen des Stoffmaterials und viele Diskussionen, Kontroversen und Anproben nötig, ehe dieses Kostümteil das Go der Ausstattungsleitung gefunden hat und auf der Bühne gezeigt werden durfte. Wie überall ist es auch am Theater von der Zeichnung zum fertigen Produkt ein intensiver und spannender Prozess der Auseinandersetzung.

Halbwertszeit
Betrachtet man ausschließlich die Kosten, den Herstellungsaufwand und die Nutzungsdauer eines solchen Bühnenkostüms, so ist die Bilanz der Nachhaltigkeit natürlich wenig zufriedenstellend. Kunst wird in dem Fall für den Moment gemacht und weniger für die Ewigkeit. Jedenfalls war das Ende der 1990er Jahre der Fall. Möglicherweise ist der Blick an Kultureinrichtungen heute zeitgemäßer, heißt nachhaltiger. Wenn auch dort Themen wie Wiederverwendbarkeit und Langlebigkeit ins Zentrum rückten, wäre das schön, genial und wünschenswert. Doch oft landet solch ein spezielles Bühnenkostüm nach seinem großen Auftritt nicht im Fundus. Zu individuell sind meistens Schnitt, Konfektionsgröße und Stil der Robe. Vielmehr lassen sich solche mehr oder weniger opulenten Überbleibsel einer Theaterinszenierung auf einem Handelsplatz finden, der sich Theater-Kleiderbörse nennt. Das ist per se eine sinnvolle Idee, denn wer gern auf Kostümparties, Bälle oder Karnevalveranstaltungen geht, kann dort tolle Schätzchen für diese Anlässe finden und für wenig Geld erwerben.

Shabby-Chic
Doch zurück zu dem Mantel aus dem Musiktheater im Revier. Er wechselte mit Sicherheit auf einer solchen Kleiderbörse den Aufenthaltsort und ging in den Besitz einer Person mit Herz für Raritäten über. Vielleicht wurde er tatsächlich zu besonderen Anlässen getragen oder er hing nur als Schmuckstück und wiederkehrende Erinnerung im Schrank. Jedenfalls wurde er zwischendurch offensichtlich von Schmutz und Staub befreit und inbrünstig ohne großen Aufwand gewaschen. Dabei gingen lindgrüne und türkise Dupionseide und der erwähnte Lurexdamast eine solch enge Farbverbindung ein, dass jeder Textilkünstler nur staunen möchte. „Shabby-chiciger“ könnte man einen Stoff kaum absichtlich batiken. Und wahrscheinlich wäre dieser Mantel wirklich längst im Abfall gelandet, wäre er eben nicht in meine Hände geraten. Denn diese durch das Waschen entstandenen Farbkleckse versinnbildlichen für mich eine echte Lebensreise.

Lebenszeichen
Als ich den Mantel aus dem Regal zog und das Lindgrün sah, verband ich damit sofort eine sehr feierliche Erinnerung. An einem heiteren Sommertag 1998 hatte ich ein langes, festliches Kleid in eben solcher Farbe getragen und vor dem Traualtar JA gesagt. Und weil sich dieser denkwürdige Tag nun zum fünfundzwanzigsten Male jährte, habe ich beschlossen: dieser vom Leben gezeichnete Stoff wird mein Festkleid dafür. Denn die unabsichtlich entstandenen Batikflecken haben für mich auch durchaus einen denkwürdigen Symbolcharakter. Verglichen mit fünfundzwanzig Jahren Ehe spiegelt diese Seide genau das wider, was in der Zwischenzeit passiert ist. Jeder Fleck steht für ein Ereignis gelebten Lebens in allen Facetten, Höhen und Tiefen: wilde Parties mit Rotweinflecken, Kaffeekränzchen mit Großeltern, bekleckerte Strampler, volle Windeln, Finger-und Wasserfarbenklecksereien, Kleckerburgen am Strand oder unzählige Tomatensoßenmittagessen. Im übertragenen Sinne sind darin aber auch Missgeschicke, Fehlversuche, Wunden, blaue Flecken, Blessuren und Schrammen versteckt, die eine Ehe abhalten darf, kann, muss. Kein Mensch, keine dauerhafte Beziehung kommt wohl daran vorbei. Meine hat es jedenfalls nicht geschafft. Und doch hatten alle Missverständnisse glücklicherweise meist genug Zeit und Gelegenheit zur Heilung und zum Restart.

Die Tatsache, dass der Mantel von einer Theaterbühne stammt, erinnert mich zudem an unzählige, vergangene Theaterbesuche im In-und Ausland, an Musik und Tanz und Schauspiel. In London oder Wien oder Hamburg. Von Profis oder Amateuren. Und steht nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit meiner eigenen theaterpädagogischen Arbeit. Der Stoff und diese Flecken sind also ein glücklicher Zufall und philosophisch bedeutsam für mich. Für die Rückschau und die Zukunftsabsichten.

Anfang und Ende
Nun ist aus diesem Stoff also wieder mal ein sehr persönliches „Festkleid“ geworden. (Und natürlich habe ich das alte Revier-Etikett als Teil der Materialchronik wieder eingenäht. Denn der Theatergedanke gehört zu diesem Kleidungsstück einfach dazu.) Wer die ersten Stories aus dem Jahr 2021 gelesen hat, der weiß, dass die Oops!cycling-Idee mit drei Kleidern begonnen hat, die ich mir aus alten Hemden genäht hatte. Damals war dieses mehr oder weniger vom Himmel gefallene Upcycling-Projekt ein unbedingt notwendiger alternativer Kreativitätskanal für mich, da ich als Theaterpädagogin in Coronazeiten kaum mehr Gelegenheit hatte, mit Menschen zu arbeiten. Jetzt, zwei Jahre danach, nähe ich erneut ein Kleid und weiß, mehrere Theaterprojekte werden in ein, zwei Monaten wieder anlaufen und auf mich warten. Und ehrlich gesagt, freue ich mich riesig darauf.


Dennoch werde ich diesen Onlineshop erst einmal weiterhin betreiben, wenn vielleicht auch weniger zeitintensiv. Die letzten Monate haben mir gezeigt, wie das aussehen kann. Vielleicht werden weniger Oops!-Produkte zum Verkauf neu entstehen. Vielleicht bringe ich hin und wieder ein paar Ideen ins Regal, die vordergründig Anregung geben können und Lust auf Nacharbeiten machen. Vielleicht gibt es auch hin und wieder eine neue Story zu lesen, denn, das muss ich wirklich zugeben: Ich webe, häkle, stricke einfach wahnsinnig gern Satzfetzen und Textgeflechte.


So ist diese Story und ihr Thema heute kein Abschied sondern nur wieder ein neuer Anfang, bei dem das Leben einlädt, es mit Neugier und Engagement zu gestalten. Es als Geschenk zu betrachten. Ich wünsche uns allen interessante Flecken auf Kleidern und Herzen. Gute und weniger gute. Letztere hoffentlich gut verheilt. Denn diese Melange macht uns zu dem, was wir sind. Einzig und besonders.


Ein Hoch auf die nächsten fünfundzwanzig!
Alles Liebe, Catherin


PS: Heute danke ich einmal mehr meiner Oops!-Begleiterin und Freundin Sonja, die mir diesen kostbaren Fleckenmantel überlassen hat!

Lust auf eine neue Story? Dann schau im nächsten Monat wieder vorbei! Es gibt hinter den Kulissen immer wieder etwas zu entdecken.
Du findest in regelmäßigen Abständen auch kurze BACKSTAGE-Geschichten bzw. Oops!cycling-Infos auf Instagram oder gewerbe.nebenan.de.
Zudem ist Oops!cycling mit einem Eintrag bei eco-so-lo gelistet, einem virtuellen Marktplatz für nachhaltige Unternehmen (ökologisch, sozial, lokal).

Regelmäßig werden neue Produkte eingestellt. Vielleicht ist für dich hin und wieder etwas dabei. Das würde mich sehr freuen!

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